Drei Kinder – drei individuelle Geschichten, die Katja Higatzberger besonders im Gedächtnis geblieben sind, und die ein gutes Beispiel dafür sind, wie dringend es eine Veränderung braucht.

Manuel: logischer Denker – kann nicht malen
Manuel habe ich kennengelernt als er gerade mal 6 Jahre alt war. Er besuchte damals den Ferienkurs „Die Forscherdetektive entdecken die Welt“ und schnell fiel sein großes Interesse für Zahlen auf. Manuel ist einer dieser sprühenden Schüler. Unglaublich großes Interesse, faszinierende, kreative Ideen – nicht unbedingt immer korrekte Lösungen.

Manuel war auch eines der ersten Kinder, die den Kurs „Mathe extrem“ besuchten. Mit seinen unkonventionellen Lösungsansätzen und seinem quirligen Humor sorgte er immer für Unterhaltung. Parallel zu „Mathe extrem“ organisierte ihm seine Mutter für seine drängendsten Fragen zum Weltall, Physik und Mathematik Hilfe, indem sie einen Oberstufenschüler engagierte, der ihm diese beantwortete.

Als Manuel in der zweiten Klasse war, begleitete ich seine Mutter zu einem Lehrerinnengespräch. Er lernte in der Schule gerade das kleine Einmaleins auswendig, während er sich bei uns im Kurs voller Begeisterung im Millionen-Bereich bewegte. Wir baten mit vereinten Kräften um eine Differenzierung, da ihn die Aufgaben sehr langweilten. Die Antwort blieb mir bis heute im Gedächtnis: „Aber er kann ja noch nicht richtig malen. Das geht nicht!“ Manuel ist heute 15 Jahre alt und immer noch ein „Mathe-extremie“, wie ich meine Kurskinder nenne. Ich werde ihn das nächste Mal fragen, ob er in der Zwischenzeit das Ausmalen gelernt hat.

Emily: Rechengenie – bringt ihre Gedanken schwer zu Papier
Emily besuchte mich viele Jahre später. Von ihr war ich ebenfalls gleich fasziniert. Sie wirkte zart und klein und ein bisschen verloren. Auch Emily liebte die Zahlen. Sie war erst fünf Jahre alt und noch nicht in der Schule. Ich stellte ihr ein paar Probeaufgaben, die sie mit Leichtigkeit löste. Von ihrer Mutter wusste ich, dass sie bereits im 1000-er Raum rechnen konnte. Also fragte ich sie, ob ich ihr eine letzte, besonders schwierige Aufgabe stellen dürfe. Sie nickte begeistert. „Was ist 526-248?“ Das darauffolgende Schauspiel faszinierte mich. Emily begann im Raum Kreise zu gehen. Tiefkonzentriert umrundete sie den Tisch, um schließlich, nach einigen Minuten „268“ zu sagen. Gerade als ich ansetzen wollte zu sagen, dass sie sich ein bisschen vertan hätte, korrigierte sie sich selbst und sagte: „Ach nein, ich habe mich verrechnet, es ist 278!“

Auch Emily besuchte daraufhin „Mathe extrem“. Sie stellte uns vor große Herausforderungen. So gut sie rechnete, so wenig Handlungsplanung oder Feinmotorik besaß sie. Um ihre Zahlen bei den Aufgaben, die sie schriftlich löste, entziffern zu können, benötigte man zu Beginn viel Fantasie. Zumeist saß meine Tochter Marie direkt neben ihr und half ihr bei der Darstellung dessen, was in ihrem Kopf vorhanden war. Nur zu verständlich, dass die Schule, die sie ein Jahr später besuchte, darauf bestand, dass sie zunächst einmal Zahlen schreiben lernen sollte. Doch statt ihr die Ziffern in einem ihren Fähigkeiten entsprechenden Hunderter-Bereich zu zeigen, wurde dabei darauf bestanden, Kugeln im 10-er Raum zu zählen. Eine stärkenorientierte Differenzierung fand auch bei Emily nicht statt, Weihnachten durfte sie dann im 10-er Raum rechnen!

Thomas: hochkonzentrierter Mathematiker – findet Hausübungen langweilig

Thomas ist ein sehr sympathischer, eher ruhiger Junge, der erst relativ spät, mit 10 Jahren, nach einem Talentefest zu uns stieß. Er konnte sich sofort in die Gruppe gut integrieren und war durch seine liebenswürdige Art sofort beliebt. Thomas war leiser, nicht sprühend, nicht auffällig. Aber er konnte ausdauernder und konzentrierter arbeiten, entdeckte in seiner ruhigen Art zumeist sehr schnell den richtigen Lösungsansatz und lernte mit der Zeit, sich bei den Teamarbeiten unter den vielen lauten, quirligen Kindern durch seine klugen Schlüsse Gehör zu verschaffen. Mit 12 Jahren erreichte er beim „Känguru der Mathematik“ bundesweit den zweiten Platz seiner Altersklasse, was er nie groß thematisierte.

Seine Mutter meldete ihn aufgrund seines großen Interesses noch bei der „Mathe Fans an die Uni“ an. Besonders freute ich mich, als seine Mutter mir gegenüber erwähnte, dass er den „Mathe-extrem“-Kurs niemals ausfallen lassen würde, da dieser in seinen Augen das Allerbeste sei. Im letzten Jahr war Thomas auf einmal nicht mehr dabei. Ich vermisse „meine Kinder“, vor allem diejenigen, die seit langer Zeit voller Begeisterung dabei sind. Daher rief ich seine Mutter an und fragte nach. Dass Thomas auf einmal keine Lust mehr hat, konnte mir nicht vorstellen.

Das Gespräch hat mich erschüttert und wütend gemacht – nicht auf die Mama, sondern auf die Institution. Thomas hatte mit einem Mal aufgehört, seine Mathe-Hausaufgaben zu machen, woraufhin seine Eltern beschlossen haben, ihn aus allen Zusatzkursen zu nehmen, bis sich das wieder ändert. Auf meine Frage nach Thomas‘ Noten bei den Schularbeiten antwortete die Mutter mit Einsern und Zweiern. Es scheint also, als ob Thomas das zusätzliche Üben während der Hausaufgaben einfach nicht notwendig hat. Anstatt ihm vertiefende und herausfordernde Aufgaben zu geben, bestand sein Lehrer darauf, dass Thomas die „normalen“ Übungsaufgaben mitmachte. Ich bin mir sicher, Thomas hätte schwierigere Aufgaben mit Begeisterung bearbeitet! Stattdessen darf er nun keine Kurse mehr besuchen, die seine Entwicklung wirklich gefördert hätten.

Aussicht auf Besserung ist dringend notwendig

Geschichten wie die von Manuel, Emily oder Thomas gibt es viele bei meinen „Mathe extrem“-Kursen. Statt in der Schule gefördert zu werden, müssen sie warten, bis sie die Matura gemacht haben. Dass so ein Kinderleben aber auch ganz anders aussehen kann, zeigt der nächste Blogbeitrag.

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